Die Trommeln des abmarschierenden Stabsmusikcorps der Bundeswehr verhallen auf dem Hof des Bundesverteidigungsministeriums. Der noch auf diesem Hof verharrende Bundeskanzler Olaf Scholz wendet sich der Ehrentribüne zu, nimmt minutenlang den Applaus der zahlreichen Gäste entgegen. Auch sein Nachfolger im Amt, Friedrich Merz, klatscht pflichtschuldig mit. Die große Kanzlerlimousine fährt vor, Ehefrau Britta Ernst tritt von der ersten Reihe der Tribüne vor, stellt sich an die Seite ihres Gatten. Beide besteigen den Mercedes und dann ist er weg: Der neunte Bundeskanzler der Bundesrepublik ist am Ende des Großen Zapfenstreichs Geschichte. Scholz, aus, vorbei.
Es ist gute Tradition, dass der deutsche Regierungschef auf diese zeremonielle, etwas rumpelig-deutsche Art und Weise verabschiedet wird. Im Fackelschein, mit Blasmusik und reichlich Trommelwirbel. Scholz, der weder Nähe zu Musik im Allgemeinen noch zu großen Gesten zu seinen Eigenschaften zählt, nimmt die Ehrerbietung staatstragend ernst entgegen, ohne erkennbare Rührung. Gefühle hat der Hamburger im Amt ohnehin lieber für sich behalten, wenn er nicht gerade außerordentlich empört oder amüsiert war. Ersteres über andere, Letzteres oft über sich selbst.
Das Zeremoniell ist Scholz dennoch wichtig, wie aus seiner Erwiderung auf die Rede von Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius hervorgeht: Es sei „in diesen Zeiten eben keineswegs normal, dass sich ein solcher Wechsel so zivilisiert, so kollegial und anständig vollzieht, wie wir das in diesen Tagen hier in Deutschland erleben.“ Scholz Rede ist eine kleine Ode auf die Demokratie an sich, auf den Zusammenhalt im Land und auf die Kraft, die so eine Gesellschaft in sich birgt. „Ein Land, das solche Bürgerinnen und Bürger hat, muss keine Angst vor der Zukunft haben“, lässt Scholz in einem seiner letzten Sätze wissen.
Gewählt von Ost und West
Mit einiger Spannung war erwartet worden, welche drei Lieder sich der Sozialdemokrat vom Stabsmusikcorps wünschen würde. Die Titel-Liste sickerte schon einige Tage vorher durch. Der Beatles-Song „In My Life“ geriet zur beschwingt-melancholischen Eröffnung, gefolgt von einem Auszug aus Johann Sebastian Bachs „2. Brandenburgischen Konzert“. Diese Wahl lässt sich als Referenz an seinen Wahlkreis Potsdam verstehen. Scholz ist mächtig stolz darauf, nach Hamburg auch von einem ostdeutschen Wahlkreis direkt in den Bundestag gewählt worden zu sein. Er erwähnt diesen Erfolg auch an diesem Abend, der in Berlin so sonnig beginnt, aber eiskalt endet – als wäre es November, nicht Anfang Mai. Von den bereitliegenden Decken machen die Gäste umfassend Gebrauch und zittern dennoch vor sich hin.
Stunden vor Beginn rollen dicke Limousinen im Sekundentakt auf das streng und weiträumig abgesperrte Gelände des Bundesverteidigungsministeriums. Zu erkennen auf den Rückbänken sind unter anderem Bärbel Bas, künftige Bundesarbeitsministerin, oder der bisherige Kanzleramtsminister Wolfgang Schmidt. Scholz‘ enger Begleiter arbeitet im Fonds des Autos mit Zettel und Stift in der Hand, hat offenbar bis zur Amtsübergabe am Folgetag noch allerhand zu tun.
Schon länger ohne Aufgabe im Politikbetrieb ist der im Herbst zurückgetretene Ex-SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert. Der Berliner radelt zum Prestige-Termin, um jenem Kanzler die Ehre zu erweisen, den er einst als SPD-Chef verhindert hatte, ihn dann aber als Kanzler öffentlich verteidigte – von Amts wegen, aber mit Verve. Auch Malu Dreyer, ehemalige Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz und SPD-Genossin, erscheint – tapfer zu Fuß, trotz ihrer Krankheit.
Im Ministerium gibt es einen kleinen Empfang, dann haben die Gäste beim Warten auf der Ehrentribüne viel Zeit zu plaudern. Merz und Ehefrau Charlotte stehen lange mit den Grünen-Fraktionsvorsitzenden Katharina Dröge und Britta Haßelmann zusammen. So aus der Ferne lässt sich dem Plaudern kaum entnehmen, wie bitter Merz noch vor Wochen gestritten hat mit den Grünen – erst über das Abstimmen der Union mit der AfD im Bundestag, dann über eine Grundgesetzänderung zur Lockerung der Schuldenbremse.
Pistorius würdigt mit „Entschlossenheit, Klugheit, Besonnenheit“
Von der Bühne voller Honoratioren aus Politik und Bundeswehr, darunter Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, schallt munter-aufgeregtes Quasseln in den weiten Hof. Die Stimmung erinnert an eine volle Schulaula vor der Theateraufführung. Es stimmt schon: So eine geordnete, höfliche Machtübergabe ist fern von selbstverständlich. Wobei sich Merz vorkommen muss wie ein Baby, das noch kurz vor seiner Geburt eine Beerdigung besucht. Er bekommt das eigene Ende vorgeführt, noch bevor er selbst angefangen hat.
Es fällt Boris Pistorius zu, in seiner Rede die Leistungen des Bundeskanzlers Olaf Scholz zu würdigen. Er nennt ihn einen „Staatsmann“, der sein Amt mit „Entschlossenheit, Klugheit, Besonnenheit“ ausgeübt habe. Scholz habe sich „nie von Lautstärke und Stimmungen treiben lassen“, sagt Pistorius. „In schwierigen Zeiten hast du Kurs gehalten.“ Pistorius duzt den Geehrten durchweg. Die Rede wirkt nicht aufgesetzt, auch wenn Scholz dieser Tage sonst kaum bis gar keine Lobpreisung seiner Regierungszeit zu hören oder zu lesen bekommt.
Pistorius lässt keinen Zweifel daran, dass der russische Machthaber Wladimir Putin mit seinem Angriffskrieg gegen die Ukraine Scholz und seiner Ampelkoalition schon früh einen „Strich durch die Rechnung gemacht“ habe. Der Bundeskanzler habe mit seiner „Zeitenwende“-Rede die richtige Antwort gefunden. „Die Menschen haben in unmissverständlicher Entschlossenheit gehört, was gesagt werden musste“, erinnert der bisherige und künftige Verteidigungsminister an Scholz‘ Bundestagsrede vom 27. Februar 2022.
Und er würdigt, dass Scholz im Herbst 2024 die „Zeichen der Zeit“ erkannt und das Regierungsbündnis beendet habe. „Führung gerade in schwierigen Zeiten braucht Entschlossenheit, auch schmerzhafte Entscheidungen zu treffen.“ Auch wenn diese den eigenen Amtsverlust bedeuten. Diese Lektion müssten andere noch lernen, sagt Pistorius.
Am Ende gibt es „Respect“
Merz dürfte sich an dieser Stelle mitgemeint fühlen. Er verfolgt den Zapfenstreich aus der ersten Reihe, aber eher ganz am Rand, neben den Grünen-Fraktionsspitzen. Noch hat er kein offizielles Amt inne, nimmt aber nach Scholz Abfahrt schon beste Wünsche für seine kommende Amtszeit entgegen, darunter von Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsidentin Manuela Schwesig. Vertreter der FDP sind nicht unter den Geladenen. Soweit ging dann Scholz‘ Wunsch nach einem versöhnlichen Abgang dann doch nicht.
Scholz bekennt in seiner Erwiderung, es sei ihm „die Ehre meines Lebens“ gewesen, Deutschland zu dienen. Er empfinde „Freude und Demut“, drei Jahrzehnte lang in verschiedenen Funktionen am Vertrauen in die Demokratie mitgewirkt zu haben. Gerade dieses Vertrauen ist am Ende seiner Amtszeit mächtig angekratzt. Eine Partei, die der Bundesverfassungsschutz gerade als „gesichert rechtsextremistisch“ eingestuft hat, ist am Ende von Scholz Amtszeit doppelt so stark im Bundestag vertreten wie zu dessen Beginn. Scholz erinnert – ohne die AfD zu nennen – an die Kraft des Zusammenhalts, die das Land auch über diese Krise hinwegtragen werde.
Zu dieser Zuversicht passt das dritte Lied, das der selbsterklärte Nicht-Musikliebhaber Scholz auf seine Wunschliste geschrieben hat: Beim Lied „Respect“ in der Version von Aretha Franklin wird das Stabsmusikcorps regelrecht funky. Das hätte man der Militärkapelle so nicht unbedingt zugetraut. Auf der Ehrentribüne regt sich dennoch nichts, kein Wippen im Takt, kein erkennbares Lächeln. Es ist einfach zu kalt in dieser Montagnacht im Fackelschein der rund 300 Soldaten. Ein plötzlicher emotionaler Ausbruch hätte ohnehin nicht gepasst, nicht zu diesen Zeiten, nicht zu diesem Kanzler.
„Herr Bundeskanzler, ich melde den großen Zapfenstreich ab“, schallt es gen Ende laut über den Hof. Und kurz darauf ist auch Olaf Scholz weg, abgemeldet als Bundeskanzler. Ab Dienstagnachmittag dann ist er einfacher Abgeordneter des Wahlkreises Potsdam / Potsdam-Mittelmark II, ganz ohne Tam-Tam.