Als Carlotta Wamser den Ball in der 31. Minute des EM-Gruppenspiels von Deutschland gegen Schweden (1:4) in bester Torwartmanier mit der Faust am Einschlag hindert, sieht das zwar spektakulär aus, bringt aber gleich mehrere Probleme ein – und offenbart verheerende Schwächen ihres Teams. Denn Wamser ist bekanntermaßen die Rechtsverteidigerin des DFB-Teams – und somit nicht befugt, den Ball mit den Händen zu berühren. Die Folge: glatt Rot. Auch die anschließende Überprüfung auf Abseits rettet die 21-Jährige, die erst durch die Verletzung von Kapitänin Giulia Gwinn in die Startelf gespült wurde, nicht.
Das DFB-Team muss zum Abschluss der Vorrunde gut 60 Minuten mit einer Frau weniger spielen. Wamser ärgert sich noch im Tor kniend, schleicht geknickt hinter der Torauslinie ums Feld herum in Richtung Bank, wird von mehreren Mitspielerinnen tröstend in Empfang genommen. Durchaus zu Recht. Zwar ist Wamsers Aktion klar Rot, doch es ist auch nur noch der verzweifelte Versuch, irgendwas zu retten, was nicht mehr zu retten ist. Wamser ist die Leidtragende eines kollektiven Ausfalls des Teams. „Sie kann nichts dafür, der Fehler lag nicht bei ihr“, so Kapitänin Janina Minge nach dem Spiel.
„Es ist ein Killer, wenn wir den Ball verlieren, gerade im Mittelfeld. Dann geht es schnell in unsere hintere Reihe“, so Minge. Denn: „Jeder weiß mittlerweile, dass wir riskant spielen und auch nicht allzu tief stehen.“ Darauf hatte sich Schweden eingestellt und überforderte die DFB-Defensive, die von Torhüterin Ann-Katrin Berger nicht entscheidend gestärkt wurde. Diese spielte in der Szene zuvor im Spielaufbau den Ball zu den Schwedinnen, hatte dann Glück, weil Johanna Kaneryd statt selbst zu schießen nochmal passte und die herbeieilende Sjoeke Nüsken gerade noch so klären konnte. Wamsers unbeholfene Rettungstat wurde dann nur wenige Sekunden später nötig, weil Kaneryd im Sechzehner Rebekka Knaak ins Leere grätschen ließ und einen Querpass vor dem Tor vorbei an Berger auf Fridolina Rolfö spielen konnte. Berger stand- typisch für sie – weit vor dem Kasten und war somit nicht zur Stelle, als Rolfö aufs Tor abschloss und nur von Wamser aufgehalten wurde.
„Man darf nicht den Fehler machen …“
Die Defensive, sie war schon vor dem Turnier von Experten als die große Schwäche des DFB-Teams identifiziert worden. Das hatte sich in den bisherigen Spielen gegen Polen und Dänemark bestätigt: Schnelle Stürmerinnen setzen schon das Mittelfeld, aber vor allem die Innenverteidigung arg unter Stress, Konter sind ein ständiger Gefahrenherd für ein Gegentor. Bislang hatte sich das letztlich nicht gerächt. Beide Spiele gewann Deutschland und hatte sich somit vorzeitig fürs Viertelfinale qualifiziert.
Und Bundestrainer Christian Wück will die Kritik nach der Niederlage jetzt ohnehin nicht gelten lassen: „Man darf nicht den Fehler machen, jetzt Mannschaftsteile zu beschuldigen oder an den Pranger zu stellen. Wir wollten von vorne bis hinten sehr kompakt stehen. Wenn man sich das erste Tor ansieht, dann ist uns das leider nicht gelungen. Und auch das zweite Tor ist über einen schnellen Gegenkonter auf unserer linken Seite passiert. Auch das müssen wir im Verbund einfach besser klären.“
Denn die Schwedinnen waren ein anderes Kaliber als die beiden bisherigen Gegner, spielerisch deutlich stärker, nicht nur wegen einzelner Topspielerinnen, sondern mindestens die Startelf besteht nur aus Topspielerinnen. Und Trainer Peter Gerhardsson hatte die langsame, teils auch gedanklich neben sich stehende DFB-Defensive und die weit vor dem Tor stehende Berger offenbar ebenfalls genauestens studiert.
Denn die DFB-Frauen starteten zwar mit einer exzellenten Eröffnung ins Spiel, voll im Vorwärtsgang und schon in der 7. Minute schoss Jule Brand das 1:0. Die ersten zehn Minuten sind die besten des deutschen Teams bei diesem Turnier. Doch das hilft ihnen nicht weiter, denn Stina Blackstenius gelingt eiskalt der schnelle Ausgleich (11.). Ein Konter – dem noch viele folgen sollen – hebelt die Defensive komplett aus. „Das 1:1 war zu einfach“, sagt Torhüterin Berger.
Der Ausgleich ist nicht unbedingt dem Spielverlauf entsprechend, doch dann geht es schnell dahin für das DFB-Team. „Die gute Phase konnten wir leider nur bis zum ersten Gegentor aufrechterhalten“, so Wück. „Und danach hat man schon gesehen, welche Qualität die Schwedinnen haben.“
„Quäntchen Glück“ verhilft Schweden zur Führung
In der 22. Minute trifft Smilla Holmberg zur 2:1-Führung – mit „einem Quäntchen Glück“, so Berger. Klara Bühl sprintet mit nach hinten, kann aber nicht entscheidend klären. Holmberg kommt durch, Sarai Linder grätscht noch rein, der Ball aber prallt an Holmbergs Bein und vor dort ins Tor.
Doch spätestens danach ist die deutsche Defensive nicht mehr nur stark gefordert, sondern überfordert. „Uns ist dieses Spiel innerhalb von 10, 15 Minuten aus den Händen geglitten“, so Laura Freigang. Zweimal sind die Schwedinnen drauf und dran, das 3:1 zu erzielen. Vor allem Blackstenius übersprintet die Deutschen immer wieder. Schema F ist für sie möglich: Pass in die Schnittstelle auf Blackstenius, sie ist frei und kann weitgehend unbehelligt aufs Tor zulaufen. Der Fehlpass im Spielaufbau von Berger tut das Übrige.
Dass das 1:3 fällt, resultiert schließlich aus Wamsers Handspiel. Neben dem Rot gibt es folgerichtig auch den Strafstoß für die Schwedinnen. Fridolina Rolfö tritt an und lässt Berger keine Chance. Es wird schnell deutlich: In dieser 34. Minute ist das Spiel entschieden. Freigang analysiert nach Abpfiff: „Uns war bewusst, dass Schweden eine Mannschaft ist, die extrem schnell kontert. Nur ich glaube, dadurch, dass wir in den ersten zehn Minuten so viel nach vorne gemacht haben, haben wir ein bisschen verpasst, auch nach hinten die Räume zu schließen oder waren nicht spritzig genug im Gegenpressing, dass wir die Situation überhaupt zugelassen haben.“
Im Viertelfinale braucht es wieder neue Defensivreihe
Wück ist mit dem Platzverweis gezwungen, erneut umzustellen. Bis zur Pause beordert er Bühl in die Defensive, Linder wechselt von der Linksverteidigung auf die rechte Seite. Zur Pause wird gewechselt, doch die Schwedinnen dominieren das Spiel. Das DFB-Team hat nur noch wenige Chancen, die weitgehend ungefährlich sind. Lina Hurtig besorgt in der 80. Minute den 4:1-Endstand. Es ist die höchste Niederlage bei einer Europameisterschaft für das DFB-Team.
„Es ist natürlich ernüchternd“, so Freigang. „So einen Tag würde man am liebsten nicht dabeihaben im Verlauf einer Europameisterschaft. Aber ich habe ihn lieber heute als an jedem anderen Tag. Aber jetzt gibt es K.-o.-Spiele.“ Erstmal eines: das Viertelfinale gegen die Siegerinnen der Hammergruppe D. Voraussichtlich also gegen die bislang groß aufspielenden Französinnen. Es ist kaum zu erwarten, dass diese ihre Chancen weniger nutzen als die Schwedinnen. Und für das DFB-Team heißt es zudem wieder einmal: Die Defensive muss neu formiert werden, Wamser wird schließlich gesperrt fehlen.