Selbstverständlich kann und darf sich Xabi Alonso in diesen Tagen über die bislang starke Saison seiner Mannschaft freuen.
Bayer Leverkusen hat mit 25 Pflichtspielen ohne Niederlage ab dem Start einer Spielzeit einen neuen Rekord im deutschen Profifußball aufgestellt. Die Serie führte die Werkself an die Spitze der Bundesliga – Und trotzdem mangelt es dem 42-jährigen Cheftrainer nicht an mahnenden Worten. „Wenn unser Niveau nur ein bisschen zurückgeht, haben wir keine Chance“, sagte Alonso kürzlich bei einem Mediengespräch.
Während der ersten Saisonhälfte wurden 21 Feldspieler eingesetzt, wobei 11 davon jeweils über 1100 Spielminuten und die restlichen 10 Spieler jeweils weniger als 350 Minuten absolvierten. Alonso vertraute vornehmlich auf einen Kern an Leistungsträgern, der seine fußballerischen Vorstellungen nahe der Perfektion umsetzen konnte. Diese Vorstellungen umfassten einen ausgeklügelten Ballbesitzfußball, wie ihn sonst nur sehr wenige Teams in Europas Top-Ligen bewerkstelligen können. Während seiner ersten Saison in Leverkusen, nachdem Alonso im Oktober 2022 die Leitung der schwächelnden Werkself übernahm, als diese auf Rang 17 der Bundesliga stand, ließ der Baske vornehmlich einen Umschalt-orientierten Fußball spielen. Er wollte zunächst die Mannschaft stabilisieren und die notwendigen Punkte sammeln, um in die obere Tabellenhälfte zu gelangen.
„Wir waren letztes Jahr kein Ballbesitzteam. Wir waren ein Umschaltteam, wir waren ein Konterteam“, sagte Alonso. „Das war komplett anders als dieses Jahr. Um das zu schaffen, um die Spieler davon zu überzeugen, das hat mich wahrscheinlich zu einem besseren Trainer gemacht. Es war meine Idee, unser Spiel weiterzuentwickeln.“ Dass Leverkusen den Spielstil während der Sommerpause derart signifikant verändern konnte, ist zu großen Anteilen der Verdienst des 42-Jährigen. Darüber hinaus schlugen einige Neuzugänge bei der Werkself umgehend ein. Zu nennen sind Torjäger Victor Boniface, Flügelläufer Álex Grimaldo, Offensivallrounder Jonas Hofmann und Mittelfeldstratege Granit Xhaka. Letzterer erinnert in seiner Spielweise ein Stück weit an Alonso und keineswegs mehr an seine Zeit bei Borussia Mönchengladbach zwischen 2012 und 2016. In den darauffolgenden sieben Saisons entwickelte sich Xhaka zu einem veritablen Passgeber und Spielgestalter.
Damit passt Xhaka perfekt ins neue Leverkusener Konstrukt und erfüllt eine Rolle innerhalb der Elf, die in den vergangenen Jahren einen Schwachpunkt darstellte. Bayer besaß längere Zeit nicht einen solchen Ankerspieler und Lenker. Die Spielgestaltung von Leverkusen läuft in der Regel über den Schweizer. Dabei geht es für Alonsos Spieler darum, über die drei Linien, wie in der Grafik eingezeichnet, den Ball stets eine Linie nach vorn zu bringen und anschließend wieder prallen zu lassen. Dadurch erzielt Leverkusen kontinuierlich Raumgewinn, weil sich der Gegner meist etwas zurückfallen lasst, sobald etwa der Ball von Xhaka zu Florian Wirtz oder Jonas Hofmann gelangt. Auch nachdem der Ball im Anschluss wieder nach hinten gespielt wird, verweilen Gegner zumeist in der tiefen Position. Dadurch erzielt Leverkusen stetigen Raumgewinn, ohne jedoch Ballverluste im mittleren Spielfelddrittel zu riskieren.
Ab einem gewissen Punkt – meist nach Eintritt ins vordere Drittel – wird das Spiel beschleunigt und das Risiko erhöht. Doch selbst in hoher Position neigt sein Team zuweilen dazu, recht kontrolliert vorzugehen und den Gegner mit kontinuierlichem Passspiel am eigenen Strafraum festzumachen. In diesen Situationen ist Xhaka ebenfalls ein essenzieller Spieler, weil er aufgrund seines guten Umschauverhaltens stets die Übersicht behält und bereits vor Ballannahmen weiß, wohin der nächste Pass gehen sollte. Auch auf diese Weise bleibt Leverkusen meist in Ballbesitz und verringert die Gefahr, ausgekontert zu werden. Mit 92,8 Prozent hat die Werkself die höchste Genauigkeit bei kurzen Pässen aller 18 Bundesligisten. Außerdem spielt Leverkusen, laut dem Statistikportal FBref.com, mit Abstand die meisten kurzen Pässe – nämlich im Schnitt 355 pro Partie. Bayern München spielt als zweites Team in dieser Statistik lediglich 276,6.
In den hohen Spielfeldzonen kommt zunehmend das kreative Element eines Florian Wirtz oder auch die Dribbelstärke der Flügelläufer Álex Grimaldo und Jeremie Frimpong zum Tragen. Gerade Wirtz ist für Ballannahmen in den Räumen zwischen der gegnerischen Mittelfeld- und Abwehrlinie entscheidend. Diese speziellen Spielsituationen sind jedoch schwer zu trainieren – und das möchte Alonso auch gar nicht. „Passqualität gibt uns viel Kontrolle, besonders in der ersten Phase mit den Verteidigern und Mittelfeldspielern“, erklärte der 42-Jährige. „Aber danach müssen wir das Tempo verändern. Wir müssen hinter die Mittelfeldspieler kommen. Und dann sollen andere Dinge geschehen. Das Talent muss sich zeigen. Und das sind Sachen, die man nicht so viel trainieren kann. Das ist das natürliche Talent der Spieler.“
Er selbst war in seiner aktiven Zeit auf dem Spielfeld eher einer, der sehr methodisch und durchdacht vorging. Doch Alonso wusste auch schon damals, dass all seine Vorarbeit aus dem Mittelfeld heraus nur zu Torerfolgen führen konnte, weil ganz vorn Spieler wie Karim Benzema, Cristiano Ronaldo, Milan Baros oder Robert Lewandowski für die entscheidenden Durchbrüche sorgten. In der Hinrunde waren es vor allem Wirtz und Goalgetter Boniface.
Letzterer wird den Leverkusenern jedoch in den kommenden Wochen aufgrund seiner Teilnahme am Africa Cup of Nations (ACON) fehlen. Sollte Nigeria mit Boniface bis in die finalen K.-o.-Runden vordringen, könnte der 23-Jährige erst Mitte Februar zurückkehren. Glücklicherweise für die Werkself hat sich Patrik Schick nach erneuten Verletzungsproblemen während der Hinrunde ab Ende November hervorragend zurückgemeldet. Im abschließenden Spiel vor Weihnachten gegen den VfL Bochum erzielte der spielstarke Tscheche einen Hattrick und hatte somit entscheidenden Anteil am 4:0-Sieg. Schick wäre wohl noch immer Stammstürmer von Leverkusen, hätte er nicht seit langem mit unzähligen Verletzungen zu kämpfen. Deshalb holte Bayer 04 überhaupt erst Boniface für 20,5 Millionen Euro von Union Saint-Gilloise.
Während Schick jedoch in die Fußstapfen seines Stürmerkollegen treten kann, sieht die Lage in der Abwehr etwas problematischer aus. Denn auch die Stammkräfte Edmond Tapsoba (Burkina Faso) und Odilon Kossounou (Elfenbeinküste) sind für eine Weile beim Afrika-Cup in Kossounous Heimatland. Dadurch bleibt aus der angestammten Dreierkette lediglich Jonathan Tah übrig. Piero Hincapié, der in der Vorsaison noch 27-mal in der Startelf stand, jedoch in dieser Saison bislang weitestgehend in der Rolle des Ergänzungsspielers feststeckt, sollte somit zum Restart der Bundesliga eine gewichtigere Rolle spielen. Darüber hinaus werden Robert Andrich sowie Bayern-Leihgabe Josip Stanišić Optionen für die Abwehr darstellen.
Doch nun beginnt eine Phase, in welcher Leverkusen womöglich nicht bei 100 Prozent performen kann, was Alonso jedoch als notwendig erachtet. Es wird für den baskischen Trainer eine erste ernsthafte Härteprüfung, die er meistern muss. Bislang hat Alonso viel Ruhe ausgestrahlt und seinem Team dem Anschein nach jede Menge Selbstvertrauen eingeimpft. Diese Gabe des ehemaligen Weltklasse-Mittelfeldspielers ist in den kommenden Wochen umso mehr gefragt.