„Wir wollen das Ding holen!“ Elisa Senß redet nicht drum herum. Geradeheraus formuliert die EM-Debütantin ihren Traum vom Titel. Und ist damit in guter Gesellschaft. Denn so selbstbewusst sind tatsächlich alle Spielerinnen beim Media Day des Deutschen Fußball-Bundes in Herzogenaurach. Nichts ist es mit dem typischen Understatement vor einem großen Turnier oder dem Verschleiern eines klaren Ziels. „Manchmal muss man gar nicht so vorsichtig sein“, sagt Senß selbstbewusst.
Stürmerin Lea Schüller sagt: „Ich glaube, dass dieses Jahr wirklich das Ziel Titel zählt. Da ist nicht eine Spielerin, die herausstich“, sagt sie und wird bestätigt, wenn man sich bei den anderen Spielerinnen umhört. Egal, welche ihrer Kolleginnen gefragt wird, alle sprechen vom Titel. Schüller sagt: „Deshalb habe ich auch nicht irgendwelche persönlichen Ziele. Ich möchte einfach mit der Mannschaft am Ende den Titel holen.“
Übler Kater und viel Ärger
Klar, das DFB-Team reist als Vize-Europameister in die Schweiz (2.-27. Juli). Doch 2022 ist gefühlt in DFB-Frauen-Jahren länger her als nur 36 Monate. Nach der großen Euphorie, die der Erfolg in England ausgelöst hatte, folgte der üble Kater von der WM 2023 in Australien. Aus nach der Gruppenphase. Anschließend die Trennung von Trainerin Martina Voss-Tecklenburg und allerlei atmosphärische Störungen inklusive.
Horst Hrubesch übernahm interimsweise. Der Retter in der Not, der schon einmal eingesprungen war, sollte das Team zu den Olympischen Spielen führen. Dass er den verunsicherten Spielerinnen ihr Selbstvertrauen zurückgab, ist sein großer Verdienst. Noch größer: es gab Olympia-Bronze. Das Team hatte sich wieder gefunden, kämpfte sich gemeinsam durch. Und besiegte Weltmeister Spanien im Spiel um Platz 3.
Von Anfang an aber war klar, dass er mehr verwalten würde als Fortschritt erzeugen. Das Fußball-Urgestein hat die Tugenden angepackt – doch die Zukunft lastet strukturell auf seinem Nachfolger. Der heißt nun seit vergangenem Oktober Christian Wück. Der war als Jugendtrainer erfolgreich, hat mit der U17 den WM- sowie den EM-Titel gewonnen, doch er hatte zuvor noch nie ein Frauenteam gecoacht. Eine völlig neue Erfahrung und das nur zehn Monate vor dem ersten Großereignis.
„Ich glaube, meine Art zu führen, meine Art mit Menschen umzugehen, ändert sich ja nicht mit dem Geschlecht oder dem Alter der Mannschaft“, sagte Wück zwar. Doch mit wem er in die Zukunft gehen will, das mussten er und sein Trainerteam mit Maren Meinert und Saskia Bartusiak sowie Torwarttrainer Michael Fuchs erst einmal herausfinden. Hinzu kam, dass mit Kapitänin Alexandra Popp, der langjährigen Stammtorhüterin Merle Frohms, Verteidigerin Marina Hegering und Offensivkreateurin Lina Magull gleich mehrere Säulen des Teams ihre Karrieren beim DFB beendeten. 33 Spielerinnen setzte Wück in den zehn Spielen seit seiner Amtsübernahme ein, um jetzt seinen 23er-Kader auszuwählen.
„Auf gutem Weg“ mit dem neuen Trainer
Während Wücks Premiere mit einem 4:3-Sieg im Wembley-Stadion gegen England noch verheißungsvoll verlief, eierte es danach kräftig. Auswärts ein Sieg, zu Hause eine Pleite – und das gleich zweimal hintereinander. Dann folgten erste Halbzeiten mit Totalaussetzern, die in der zweiten Halbzeit wettgemacht wurden. Ein Kader, zwei Gesichter, viele Fragezeichen. Wo steht das Team, ist es konkurrenzfähig oder wird die EM das nächste Debakel?
„Wir waren mit Christian (Wück, Anm.d.Red.) im Austausch, haben gute Lösungen gefunden, sind auf einem guten Weg und mit einem neuen Trainer muss sich das alles einspielen“, erklärt Sjoeke Nüsken, warum das Team selbst keine Zweifel zugelassen hat. Auch die neuerlichen Störungen um Felicitas Rauch und Nicole Anyomi, die dem Bundestrainer öffentlich einen Mangel an Kommunikation vorwarfen sowie die Verwirrung um die Trainingsnominierung der noch nicht wieder ganz genesenen Lena Oberdorf, konnten rechtzeitig vor der EM abgehakt werden.
Schüller ist völlig überzeugt vom Team. Auch ohne Teambuilding-Maßnahmen sei es schon jetzt eine eingeschweißte Gruppe. Nüsken sagt: „Zusammen feiern, zusammen eine Bronzemedaille zu gewinnen, das macht was mit einem Team.“ Das bestätigt auch Katrin Hendrich, die ihr Debüt schon vor mehr als zehn Jahren gegeben hatte und mit Wück nun schon ihren fünften Trainer beim DFB erlebt. Die Verteidigerin, die nach der EM in die USA zu den Chicago Stars wechselt, hat durch ihre Entwicklung von einer jungen zu einer der ältesten Spielerinnen eine Entwicklung im Nationalteam durchgemacht. Doch die Rolle der Erfahrenen gefällt ihr, auch, weil die Jüngeren ihr zufolge pflegeleicht, am Boden geblieben sind. Die Mischung passt also im Team.
„Wir wollen das Ding holen!“
Und auch die letzten beiden Erfolge motivieren. Ein vor herausragender Bremer Kulisse herausgespieltes 4:0 gegen die Niederlande und ein 6:0-Sieg in Österreich, bei dem alle Tore in der ersten Halbzeit fielen. „Von den letzten beiden Spielen kann man den Schwung mitnehmen und da anknüpfen“, sagt Nüsken.
Es sind die Spiele, die auch bei den Fans für den Aufschwung sorgten. Die Hoffnung, dass es wieder weit gehen möge, sie wächst. Beim Team ist es längst mehr als Hoffnung, sondern der feste Glaube daran. In einer Woche reist der DFB-Tross ins Teamquartier nach Zürich, am 4. Juli steht dann das erste Spiel gegen Polen an. Es folgen die Partien gegen Dänemark (8. Juli, 18 Uhr) und Schweden (12. Juli, 21 Uhr). Dass dann im Viertelfinale mit den Titelverteidigerinnen aus England oder den starken Französinnen schon echte Schwergewichte im Weg stehen könnten, die ebenfalls zum Favoritinnenkreis zählen, muss den deutschen Spielerinnen egal sein – denn sie wollen ja „das Ding holen!“